Klaus Plois hat sein Saisonhighlight 2008 mit dem Drei-Länder-Giro gesetzt und seine Eindrücke in einem fesselnden Bericht zusammengefasst.
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Drei Länder, drei Pässe, 3.400 Höhenmeter: Rundfahrt für alle
Sinne von Nauders über das 2.757 Meter hohe Dach des Giro zum Ofenpass
und Norbertshöhe.
Radsport: Fußball ist nur das halbe Leben. Was tun, wenn die Rampen
im Tecklenburger Land nicht mehr steil genug sind und die
Trainingsrunden im Rennradsattel über die Schwarzwaldhöhen (Belchen,
Kandel, Blauen, Kreuzweg) in den letzten Jahren (Trainingslager) von
der Herausforderung zum Alltag werden?
Dann lockt den Hobbypedaleur das Hochgebirge. Eine Rennradfahrerin
und zwei Radfahrer der RSG-Steinbeck kämpften sich am Wochenende bei
Gluthitze zusammen mit 3.100 Gleichgesinnten beim 15. Dreiländergiro
vom österreichischen Nauders am Reschenpass hinunter nach Südtirol über
Stilfserjoch und Ofenpass durch den Schweizer Nationalpark 170 km weit
zurück zum Startort.
Nauders, morgens um sechs: Vergessen die Nacht in der wir in Sorge um
unsere Gipfeltauglichkeit im Bett rotiert sind und keine 60 Minuten
lang die Augen zugemacht haben. Um vor lauter Hibbeligkeit fast den
eigenen Namen zu vergessen, braucht`s keinen Koffein. Um uns herum nur
furchterregend gut gelaunte Pedaleure, die gestählten Waden gut geölt,
das mit drei - vier Monatslöhnen gezüchtete Carbongefährt (oder dem
etwas einfachen Alu-Carbongefährt) zwischen die Beine geklemmt. Unter
mehr als 3.000 Wildentschlossenen in bunten Trikots sind keine Zweifler
in Sicht. „Du musst einfach nur fahren und ein klein büschken
klettern.“ Nur fahren? Der Stadionsprecher bringt`s in
Luis-Trenker-Deutsch auf den Punkt: „Aufi müßt`s“.
06:30 Uhr Startschuss Aufi geht`s Ruppig, statt ruhigem Einrollen Raserei im Tretlager. Und das bergauf. Vorwärts stürmen in Zehnerreihe. Rangeln um jeden
Meter. Hechelnde Leiber links und rechts, Drängler am Hinterrad. In
jeder Bisonherde geht`s gesitteter zu. Jetzt nur nicht denken, treten,
treten, treten, treten. Kaum sieben Minuten auf der Flucht, liegt
Österreich hinter uns. Am Reschensee kitzeln die ersten Sonnenstrahlen,
abgelenkt vom gefluteten Kirchturm.
06:50 Uhr, Blitze aus heiterem Himmel. Die italienischen Carabinieri
grinsen schelmisch, als wir auf der Talfahrt in der Vinschgau mit Tempo
50 bis 70 die Radarfalle in der 30er-Zone zu Belichtungssalven zwingen.
Dröhnendes Gelächter im Pulk und ein Wunsch - dieses Gruppenfoto hätte
jeder gern.
Kilometer 30, Glurns: Ko-Ko-Kopfsteinpflaster. Die Granitwacken auf dem
Marktplatz bescheren uns in Südtirols kleinster Stadt die erste
Rüttelmassage des Tages. Genugtuung beim Blick auf den Tacho: Schnitt
35 - 40, Puls 150 - 170, Motivation 1.000 Prozent, sorgenfrei.
Prad, 900 Meter über Wasserspiegel: letzte Sekunden des Stimmungshochs
- am Tiefpunkt des Dreiländer-Giro hat die Raserei durch Obstplantagen
und Weinberge ein Ende. Die Kette fällt nach links. Das Peloton
zerbröselt. Der Berg ruft.
Trafoi: Hoi! Der Berg riecht. Die ersten 600 Klettermeter im Sattel
haben dem letzten Hauch von Deo den Garaus gemacht. Dabei sind wir erst
am Fuß des Stilfserjochs, vielleicht gerade mal auf Wadenhöhe der
Königin aller Pässe. Schweiß verdunstet aus allen Poren in der
Morgensonne. An der Betonmauer, die wie ein Strumpfband den Wald
zurückdrängt.
Kilometer 51, Kehre 48: Jetzt stecken wir drin im Joch. Die Kletterei
wird zum Kraftakt, 14 Prozent Steigung, elf Stundenkilometer Vortrieb,
kurbeln, keuchen, noch 1.200 Höhenmeter bis zum Gipfel.
Kehre 45: Klettern mit einem „Schnitt“ von neun Kilometern pro
Stunde. Wenn wir so weitermachen, wird`s Nacht, bis wir das Ziel sehen.
Der Biss wird zahnlos. Linkser als links will die Kette nicht klettern.
Kehre 40, Die Kletterei ist nur noch Schleichfahrt. Jetzt kämpft jeder mit sich allein, gemeinsam einsam mit ein paar tausend.
Kehre 28, Der Bergwald verkrüppelt zu Latschen und gibt den Blick
frei in gähnende Tiefe und auf erhabene Größe. Im Nacken grüßt gleißend
der Ortler. Ein verführerischer Aufi-mueß-i-Gipfel. Uns bleibt nur
Asphalt, stilles Leiden und Halluzinationen.
Kehre 1, Verpflegungsstation. Fast oben! Allmachtsfantasien zum
Beinahe-Hungerast, Druckbetankung des Muskelmotors, eine Banane für die
Sinne, klebriges Energie-Gel aus der Tube für den Vortrieb, 1,5 Liter
Wasser in die Trinkflaschen. 3:40 Stunden nach dem Start in Nauders ist
das die Höhe: 2.757 Meter über NN - Stilfserjoch erreicht.
Nach zehn: Abwärts, Kette rechts. Den Rücken lang machen, über
Serpentinen 200 Meter tiefer rauschen mit Tempo 60, der italienischen
Zollbeamtin zuzwinkern, die eine von Bormio heraufdrängende Herde
Ferraristi im Zaum hält und uns schwungvoll den Weg in die Schweiz
weist. Am Umbrailpass wartet Verdruss. Ca. drei Kilometer Naturstraße,
gespickt mit milchzahngroßen Kieseln, sind bei zehn Prozent Gefälle auf
fingerdickem Pneu kein Genuss. Wer hier nicht bremst, stürzt. Wer drauf
hält, dem geht die Luft aus. Ein Dutzend Radler steht fluchend und
flickend an der Piste.
Kilometer 78, Schluss mit der Natur. Schwingen auf Asphalt. Mit
Katzenbuckel und beim Bremsen mit verkrampften Händen durch Kurven im
Bergwald. Die Felgenflanken werden heiß wie Bunsenbrenner. Das wär`s
doch: Spiegelei braten am Reifenrad. Wir träumen von schönem Essen und
verstören den Magen mit Klebe-Gel, weil wir uns das bisschen Biss, das
uns geblieben ist, nicht zum kauen verschwenden wollten.
Kilometer 90, 5.000 Meter vor dem Ofenpass packt uns die Sinnkrise.
Diesen Sch.....berg! Im Straßengraben liegen, von der Hitze gefällt,
ein paar Pedaleure. Bei dreißig Grad ohne Schatten pocht das Herz wie
ein Hamerwerk unterm Schädel. Gewitter im linken und rechten
Oberschenkel. Blitze in der Wade und Rebellion in der Speiseröhre, das
letzte Gel will zurück an die Sonne. Dazu ein furchtbarer Gedanke: Was
hilft bei Krämpfen? Gaaaanz langsam kämpfen!
Ofenpass 2.150 Meter überm Meer. Genug gekrochen. Keine Lust mehr auf
Schneckentempo. Wir brauchen Fahrtwind, um die von der Sonne versengten
Ohren zu kühlen. Kette rechts, zum Tiefflug über Asphalt hinunter ins
Engadin in den Schweizer Nationalpark. Mit 80-100 wie auf Schienen
durch weitgeschwungene Kurven. Wir rasen ohne Reue mit Blick auf
verschneite Berge und glotzende Kühe. Das bisschen Blech auf vier
Rädern vor uns ist kein Problem. Wir überholen einfach.
Susch, Schweiz, Noch 45 Kilometer bis ins Ziel. Gegenwind bei 38 Grad
im Schatten. Wer jetzt allein ist, hat die Wahl zwischen Verdursten und
Verdampfen. Aus Einzelfahrer werden kleine Gruppen.
Martina, Zollstation: Genug mit Schweizer-Schweiß. Die letzten acht
Kilometer bis Nauders sind eine läppische Distanz mit garantierter
Qual: 12 Kehren und 430 Höhenmeter trennen uns von der Norbertshöhe.
Kehre 12: Aus Radlern werden Fußgänger, Hilferufe aus dem
Straßengraben in den Kehren 9-7. „Diese Mörder“. Wir kurbeln,
irgendwie, mechanisch. Flasche leer. Nicht einmal mehr Kraft zum
Schwitzen.
Kehre fünf: Der Rücken schmerzt, der Hintern taub, Waden und Schenkel
zucken wie Zitteraale. Der letzte von 3.400 Höhenmetern - Norbertshöhe.
OBEN! Tief unten lockt Nauders. Die letzten zwei Kilometer ins Tal sind
mehr Schweben als fahren. Plötzlich ist da das Gefühl, noch stundenlang
so weiterkurbeln zu können.
Kilometer 168: Arme recken, solo ins Ziel, dürren Beifall ernten.
Es gibt Tage im Leben, die sind nicht in Worte zu fassen
und nicht zu erklären!
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